Die Revolte gegen das Assad-Regime jährt sich bald zum siebten Mal. Während der syrische Machthaber so fest im Sattel sitzt wie schon lange nicht mehr, hat der Krieg eine neue Phase erreicht. Ob es nun die blutigen Geschehnisse in Ost-Ghouta sind, die vielen unübersichtlichen Fronten oder die teils widersprüchlichen lokalen und regionalpolitischen Allianzen – die Komplexität des Konflikts macht aktuell eine differenzierte, tiefergehende Auseinandersetzung mit Syrien dringend nötig. Eine Auseinandersetzung, die auch ohne ideologische Scheuklappen auskommt.
Bei dem folgenden Text handelt es sich um einen Auszug aus dem von mir mit herausgegebenen Buch Syrien – Ein Land im Krieg. Er soll einen kleinen Einblick in die Ursachen dieses Konflikts bieten. Denn der allgemeine Fokus auf Religion und Geopolitik hat die Sichtweise auf Syrien meiner Meinung nach äußerst verengt und lässt uns alle vergessen, dass die „unmögliche Revolution“, die von großen Teilen der syrischen Bevölkerung im März 2011 losgetreten wurde, vom Wunsch nach politischer Öffnung und sozialer Gerechtigkeit getragen war.
Das Scheitern des Damaszener Frühlings: Baschar al-Assads nicht eingelöste Versprechen
Der Aufstand in Syrien kam für viele unerwartet. Das seit Jahrzehnten autoritär geführte Land galt im Gegensatz zu seinen Nachbarn Irak und Libanon als politisch stabil. Man konnte sich dem Eindruck nicht entziehen, dass die Formel „Stabilität vor Demokratie“ im Falle Syriens tatsächlich aufging. Doch wie bei den Revolten in Tunesien und Ägypten 2011, kann der Primat der Stabilität sehr leicht in sein Gegenteil umschlagen. Vor allem dann, wenn eine Reihe gesellschaftlicher Widersprüche ungelöst bleiben; etwa wenn Armut, Korruption und staatliche Repression untragbar werden. Präsident Baschar al-Assad präsentierte sich zwar zu Beginn seiner Amtszeit durchaus glaubwürdig als Reformer, der an einer Öffnung des Landes interessiert sei. Der versprochene Wandel, ein Damaszener Frühling wie ihn die Opposition herbeisehnte, blieb jedoch aus. (…)
Syrien nach dem Tod von Hafiz al-Assad: Veränderungen im Machtapparat
Im Vergleich zu Hafiz al-Assad fiel der politische Spielraum des jungen Präsidenten anfangs etwas bescheidener aus. Er teilte sich die Macht mit dem alten Führungszirkel seines Vaters. Dieser Umstand wird häufig als Erklärung für das rasche Ende des von ihm ausgerufenen Reformprozesses unter dem Slogan „Reform und Erneuerung“ (arab. „al-islah wa al-tajdid“) [1] angeführt. Baschar al-Assad musste sich zunächst gegen die alte Staatselite, die das politische Tagesgeschehen mitbestimmte, behaupten. Assads politischer Aufstieg war allerdings auch deren Verdienst. Sie unterstützten und bereiteten ihn als Nachfolger vor, um den Status quo aufrechtzuerhalten und dadurch ihre Privilegien zu sichern. Der Präsident wusste sich jedoch mit der Zeit geschickt der ehemaligen Vertrauten seines Vaters zu entledigen. Etappenweise leitete er einen Personalwechsel ein, wodurch er sich eine loyale Basis sichern konnte. Waren es anfangs noch symbolische Posten in der Baath-Partei selbst, so wurden es später Gouverneure oder Bürgermeister und letztlich strategisch wichtige Positionen, die er mit loyalem Personal besetzen ließ.[2] Bis 2006 kam es zu Neubestzungen von 14 Ministerien. Der gesamte Sicherheitsapparat[3] wurde von Angehörigen des Präsidenten durchsetzt. Durch diese Maßnahmen gelang es Assad, die alte Führungsriege in den Ruhestand zu schicken oder sie zumindest nachhaltig zu schwächen.
Syrien blieb auch nach dem Tod Hafiz al-Assads am 10. Juni 2000 eine Militärdiktatur. Noch vor den Präsidentschaftswahlen erhielt Baschar al-Assad vom damaligen Vizepräsidenten Abd al-Halim Khaddam das Generalkommando über das syrische Militär. Das Regime nahm jedoch unter der neuen Führung auch zivile Züge an, da Assad neue gesellschaftliche Akteure in die Politik holte. Es handelte sich dabei vor allem um Vertreter aus der Wirtschaft. Viele von ihnen verfügten oft über eine im Westen erworbene Expertise, die für die Modernisierung des Landes unerlässlich war. Diese reformorientierten Kräfte traten vor allem für eine technologische und ökonomische Modernisierung des Landes ein. Es war der Einfluss dieser Technokraten, der eine langsame Liberalisierung des planwirtschaftlichen Systems in Syrien möglich machte.
Doch zu einer politischen Neugestaltung sollte es auch nach der „tatsächlichen“ Machtübernahme Assads durch die Verdrängung alter Akteure nicht kommen. Die von ihm zu Beginn angekündigte politische Öffnung schien eher ein Versuch zu sein, kritische Stimmen im In- und Ausland zu beruhigen, als der Versuch einer ernsthaften Demokratisierung. Die kurzzeitige Öffnung des Landes war ein notwendiger Schritt, um unter der Bevölkerung Akzeptanz für das neue Staatsoberhaupt zu schaffen. Mit der Assad-Erbfolge wurde Syrien de facto zu einer präsidialen Monarchie. Die Vereidigungsrede Baschar al-Assads, die Themen wie Demokratie und bürgerliche Freiheiten aufgriff, motivierte Oppositionelle dazu, den Damaszener Frühling auszurufen. Neue politische Netzwerke entstanden, Diskussionsforen[4] (arab. muntadāt) wurden organisiert, Debatten über Transparenz, Pluralismus und die Notwendigkeit von Reformen an die Öffentlichkeit herangetragen und von Seiten des Regimes toleriert. Bald schon entstand eine neue zivilgesellschaftliche Bewegung. Im Sommer 2000 wurde ein erster Appell veröffentlich, das sogenannte Memorandum der 99, welches ein Ende des seit 1963 bestehenden Ausnahmezustands, Demokratie und die Freiheit aller politischen Gefangenen forderte.[5] Nur ein Jahr später folgte die Erklärung der 1.000, in der ein demokratisches Wahlgesetz nicht nur gefordert, sondern auch konkretisiert wurde. Das ging dem Assad-Regime jedoch zu weit. Es kam zu einer Verhaftungswelle gegen Oppositionelle, darunter auch prominente Kritiker wie Riyad al-Turk oder Walid al-Bunni. Den Forderungen nach politischer Öffnung begegnete man nun mit dem Argument, dass wirtschaftliche Reformen dringender seien und dass die syrische Öffentlichkeit noch nicht reif dafür wäre. Das Regime ersetzte seine ursprüngliche Parole von „Reform und Erneuerung“ durch „Modernisierung und Entwicklung“ (arab. „al-tahdith wa al-tatwir“). [6] Das Thema Demokratie wurde ad acta gelegt. Dennoch tolerierte das syrische Regime noch allgemeine Forderungen nach Demokratie und der Bekämpfung der Korruption, solange es sich nicht um konkrete Vorwürfe gegen Einzelpersonen handelte.
Ein letzter Versuch der Opposition, Baschar al-Assad an seine Reformversprechen zu erinnern, erfolgte 2005 mit der Damaszener Erklärung für nationale und demokratische Umwälzung. Dieser letzte Appell war längst mehr nicht von dem zuversichtlichen Ton der vorangegangenen Erklärungen getragen. Dennoch beinhaltete die Damaszener Erklärung sehr konkrete Forderungen, wie z.B.: [7]
- eine demokratische und moderne Verfassung, die alle Bürger, unabhängig von Geschlecht, Religion und Stammeszugehörigkeit mit gleichen Rechten ausstattet,
- die Wahl einer konstituierenden Versammlung, die eine Verfassung für Syrien erarbeitet,
- eine gerechte Lösung des Kurdenproblems, die eine völlige Gleichstellung beinhaltet und die Staatenlosen anerkennt,
- die Abschaffung aller Ausnahmeregelungen, vor allem des Gesetzes Nr. 49 aus dem Jahre 1980, das die Todesstrafe für Angehörige der Muslimbruderschaft vorsieht, sowie die Freilassung der politischen Gefangenen,
- Anerkennung des Islam als Religion der Mehrheit und als kulturbildende Komponente im Leben von Volk und Nation bei gleichzeitigem Schutz aller anderen Religionen,
- die Befreiung und Wiedereingliederung der Golanhöhen,
- und der Aufbau intensiver Kooperationen zu anderen arabischen Staaten zur Festigung strategischer wirtschaftlicher und politischer Beziehungen.
Der Damaszener Frühling blieb letztlich nur eine sehr kurzlebige Reformbewegung. Laut dem Syrienexperten Volker Perthes soll sich Baschar al-Assad zunächst gegen die Unterdrückung dieser Bewegung gestellt haben, angeblich hat er sogar jene Sitzung der Parteiführung boykottiert, bei der die ersten Verhaftungen von Regimekritikern beschlossen wurden. [8] Allerdings zeigte Assad, nachdem er den Machtkampf der ersten Jahre für sich entschieden hat, auch kein Interesse mehr, die versprochene Öffnung des Landes zu realisieren.
Ein anderer Liberalismus
Baschar al-Assads Reformbestrebungen zielten vor allem auf eine Liberalisierung der bisher staatlich kontrollierten Wirtschaft ab. Für die Umgestaltung der syrischen Wirtschaft verantwortlich war Abdallah ad-Dardari, der ehemalige Wirtschaftsminister mit Rang eines stellvertretenden Premierministers.[1] Er arbeitete zwei Fünf-Jahrespläne aus. Als Wirtschaftsexperte im Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen, UNDP, pflegte er gute Kontakte zur Türkei, die von der Öffnung der syrischen Wirtschaft profitierte. Dies war sicherlich ein wesentlicher Grund für das vor 2011 noch entspannte zwischenstaatliche Verhältnis. Durch die Reformen al-Dardaris, wurde ein Investitionsboom in Syrien ausgelöst, „aber nicht ohne schmerzhafte Begleiterscheinungen“, schreibt die libanesische Journalistin Ghadi Francis Dezember 2011 in al-akhbar und führt aus: „Syrien geriet zunehmend in den Bannkreis der Weltwirtschaft, die Gegensätze in der Entwicklung und in den Einkommen verschärften sich rapide. Man muss sich vorstellen, dass Mobiltelefone und das Internet Regionen wie das im Süden des Landes gelegene Suweida lange vor den unbedingt erforderlichen Bewässerungsprojekten erreichten.[…]Gelangt man über die Autobahn von Beirut aus nach Dardari-Land, so stechen gleich bei Sabboura riesige Baustellen ins Auge, die Frucht von Investitionen aus Kuwait, Qatar und den Emiraten. Wenn aber zur gleichen Zeit die Bauern sogar im Hauran, der früheren Kornkammer des Landes, um ihr Überleben ringen […]dann gehört auch das zu Dardaris Plan.“ [2]
Die neoliberalen Reformen unter Baschar al-Assad wurden parallel zu anderen wichtigen Ereignissen durchgeführt, die drastisch auf die syrische Gesellschaft einwirkten:[3] Infolge der US-Invasion von 2003 flüchteten 1,5 Millionen irakische Flüchtlinge nach Syrien; nach dem syrischen Rückzug aus dem Libanon 2005 und der Finanzkrise in Dubai 2008 kehrten tausende Auslandssyrier, die zuvor ihre Familien mit Überweisungen unterstützt hatten, zurück; und zwischen 2008 und 2010 wurde das Land von einer langanhaltenden Dürre geplagt, weshalb zehntausende Bauern in die Städte flüchten mussten. All diese Gruppen suchten vor allem in den verarmten Vorstädten nach Wohnungs- und Arbeitsmöglichkeiten. Die Auswirkungen der zuvor genannten Ereignisse wurden durch die Liberalisierungspolitik des Regimes intensiviert: So wurden beispielsweise die Folgen der Dürre durch die Privatisierung von staatlichen Ländereien im Jahre 2000 verschlimmert, da zahlreiche Bauern vertrieben wurden und die intensive kommerzielle Landwirtschaft den Grundwasserspiegel erschöpfte. Die staatsnahe Gewerkschaft der landwirtschaftlichen Arbeiter führte in ihren Appellen an die Regierung an, dass sich die Situation der Bauern aufgrund der Subventionskürzungen sowie der Abschaffung von Preiskontrollen auf Pestiziden und Tierfutter verschlimmerte.[4] In den Städten wiederum führte der Immobilienboom, vor allem durch Investitionen aus den Golfstaaten, zu einem rasanten Anstieg der Mietpreise, der sich durch die Aufhebung der Mietkontrolle verschärfte.
Offizielle Statistiken gingen von rund 10 bis 15 Prozent Arbeitslosen aus, inoffizielle dagegen von mindestens 20 Prozent. Die Jugendarbeitslosigkeit wurde auf bis zu 50 Prozent geschätzt.[5] (…)
Assads widersprüchliche Außenpolitik
Mit der Militarisierung des Konflikts in Syrien geriet die soziale Frage zunehmend in den Hintergrund. Vielmehr stehen jetzt regionale Feindschaften und geostrategische Agenden im Zentrum der Debatten. Oft wird hierbei außer Acht gelassen, dass die syrische Innenpolitik mit den außenpolitischen Gegebenheiten korreliert. (…)
Die seit dem Sechstagekrieg von 1967 angespannten Beziehungen zu den USA verschlechterten sich unter der Bush-Administration und seinem Krieg gegen den Terror. Zwischen den USA und Syrien kam es in den vergangenen Jahrzehnten zwar immer wieder zu Annäherungen, z.B. 1989/90 im Libanon[1] und während des von Syrien unterstützen Golfkrieges 1990/91. Dennoch wurde in den letzten Jahrzehnten eine Reihe von Sanktionen gegen Damaskus erlassen. Nach dem 11. September zeigte sich das syrische Regime aber durchaus kooperativ. Es sah die Möglichkeit, sich ein für alle Mal seiner islamistischen Widersacher zu entledigen, und gab den Amerikanern Informationen über tausende im Exil lebende Muslimbrüder weiter (ironischerweise sind das jene Kräfte, die heute von den USA und anderer westlichen Staaten im Kampf gegen Assad unterstützt werden). Doch aufgrund des Einmarsches und der Besatzung des Iraks kam es in der syrischen Außenpolitik unter Baschar al-Assad zu einem Paradigmenwechsel. Das sich in die Enge getriebene Syrien wendete sich zunehmend Teheran zu und mischte andererseits auch im irakischen Bürgerkrieg mit. Eine äußerst paradoxe Entwicklung: Zum einen wurden radikal-islamistische Aktivitäten toleriert, junge Sunniten wurden ermuntert im Irak zu kämpfen. Zum anderen wurden die Beziehungen zum Iran, das im Irak klar auf schiitischer Seite mitmischt, vertieft. Im Laufe der Zeit legte die Regierung in Damaskus jedoch wieder eine härtere Gangart gegen islamistische Tendenzen im Land ein. Denn die freiwilligen jungen Männer, die in den Irak zogen, kamen radikalisiert und kampferfahren zurück. Sie stellten fortan eine Gefahr dar und wurden vom Regime verfolgt. Die Repression der Islamisten erstreckte sich bald schon auf gemäßigte Sunniten. Religiosität alleine wurde als Indiz für Fundamentalismus ausgelegt.[2] Auf der anderen Seite wurde die schiitische Minderheit mit diversen Privilegien ausgestattet. Ihre Missionen erhielten staatliche Unterstützung und schiitische Konversionen wurden begünstigt. [3] Hierin zeigt sich nicht nur eine Doppelbödigkeit des Assad-Regimes im Umgang mit den unterschiedlichen Religionsgruppen, sondern auch ein Widerspruch zum säkularen Anspruch des Baathismus. (…)
In die Achse Teheran–Damaskus fügt sich auch Beirut ein, genauer gesagt die Hisbollah. Vor dem Libanonkrieg im Sommer 2006 sah sich Syrien einem drohenden Machtverlust im kleinen Nachbarland ausgesetzt. Nach der Ermordung des ehemaligen libanesischen Premiers Rafik Hariri wuchs der internationale Druck auf Damaskus. Es kam zu einem Aufschwung anti-syrischer Ressentiments im Libanon. Eine Protestwelle, die sogenannte „Zedernrevolution“, überrollte das Zentrum Beiruts, und forderte mit Erfolg das Ende der syrischen Besatzung. Die syrischen Truppen zogen Ende April 2005 ab. Die zwischenstaatlichen Beziehungen waren bis zum israelischen Libanonkrieg im Sommer 2006 auf einem Tiefpunkt. Den Libanonkrieg wusste Baschar al-Assad sowohl außen- als auch innenpolitisch für sich zu nutzen. Durch die Aufnahme tausender Flüchtlinge und durch die Hilfeleistungen für den Libanon während des Krieges gelang es ihm, die Beziehungen zu seinem Nachbarn zu verbessern. Die anti-israelischen Ressentiments innerhalb der Bevölkerung und auch die Angst vor einem Übergreifen der Kampfhandlungen auf Syrien, kamen der Popularität des Präsidenten (und auch der Hisbollah) zugute. Assad wurde als Held der arabischen Straßen gefeiert und verließ sich bekanntlich zu lange auf diese Popularität.
Die Verschränkung von Außen- und Innenpolitik und ihre Folgen
Obwohl das baathistische System in Syrien auf den ersten Blick sehr säkular scheint, war eine Konfessionalisierung der Politik immer wieder gegeben. Hafiz al-Assad hat nach dem gewonnenen Machtkampf gegen die Islamisten (Anm. in den 80er Jahren) zumindest eine Zeitlang versucht, eine Art Äquidistanz zu den unterschiedlichen Religionsgemeinschaften zu halten. Diese sucht man bei Baschar al-Assad vergeblich. Sein Umgang mit den Religionsgemeinschaften (auch mit ethnischen Minderheiten wie den Kurden) wurde stets dem aktuellen Stand der Außenpolitik angeglichen. Beispiele dafür gibt es zur Genüge: Wie zuvor schon erwähnt, versuchte sich das Assad-Regime nach dem 11. September am Krieg gegen den Terror zu beteiligen und führte eine „Sicherheitskampagne“ im eigenen Land, die hauptsächlich die sunnitische Bevölkerung betraf. Auf der anderen Seite wurde infolge der Allianz mit dem Iran und der Hisbollah die schiitische Minderheit (nicht zu verwechseln mit den Alawiten) mit unverhältnismäßigen Privilegien ausgestattet. Sunnitische Muslime, die eine Bevölkerungsmehrheit von rund 65 Prozent stellen, wurden zwar immer wieder in den politischen Machtapparat integriert, aber in hohem Maße auch diskriminiert, etwa wenn sie sich als sehr fromme, praktizierende Muslime zeigten. Die gesellschaftspolitischen Folgen dieser Ungleichheit liegen auf der Hand und sind auch im heutigen Syrien sichtbar. Die Konfessionalisierung des aktuellen Konflikts ist nicht nur auf das Engagement von Golfstaaten wie Saudi-Arabien und Katar zurückzuführen. Sie ist auch vom Assad-Regime selbst verschuldet worden.
Nichtsdestotrotz sollte eine Reduktion des Konflikts und seiner Ursachen auf religiöse Motive vermieden werden. Dass sich die Kernelite in Syrien zu einem beachtlichen Teil aus Angehörigen der Minderheiten, insbesondere der Alawiten, zusammensetzt, mag in den Augen vieler Sunniten außerhalb Syriens für Entrüstung sorgen. In Syrien selbst hat das Miteinander bis zuletzt funktioniert. Zur Revolte führten schließlich eine Reihe anderer Missstände: die Unwilligkeit des syrischen Regimes, eine politische Öffnung zuzulassen; seine Unfähigkeit, das soziale Elend insbesondere in ländlichen Gebieten in den Griff zu kriegen; die grassierende Korruption wie auch die Brutalität, mit der jegliche Kritik niedergeschlagen wird. Baschar al-Assad hatte über ein Jahrzehnt lang die Möglichkeit, diese Missstände zu bekämpfen und einen gesellschaftspolitischen Wandel einzuleiten. (…)
[1] Alhaj, 2011: S.10
[2] Am 9. Jänner 2001 startete der Informationsminister Adnan Omran eine Kampagne gegen die Diskussionsforen und Netzwerke der Aktivisten und beschuldigte sie, Geld von ausländischen Botschaften zu erhalten. Siehe Alhaj, 2011: S.11
[3] Eine ähnliche Entwicklung kennt man aus Ägypten, wo die karitativen Aktivitäten der Muslimbrüder vom Staat toleriert wurden, um die sozialen Folgen des neoliberalen Umbaus der Gesellschaft abzufedern.
[1] Der Palästinensische islamische Jihad (PIJ) und das Volksfront zur Befreiung Palästinas – Generalkommando (PFLP-GC).
[2] Thoma, 2008: S.87/88
[1] Im Libanon stellten sich Syrien und die USA gegen die Präsidentschaftskandidatur vom damals noch anti-syrischen General Michel Aun und unterstützen René Moawad und später den Syrien-freundlichen Elias Hrawi.
[2] Vgl Alhaj, Abdulrahman: State and Community. The Political Aspirations of Religious Groups in Syria 2000-2010, Strategic Research and Communication Center, London 2011, S.16
[3] A.a.O.: S.41
[4] Die Annäherung erfolgte auch aufgrund des Kurden-Problems. Mit der Entstehung einer Autonomen Region Kurdistan im Irak befürchteten Türkei und Syrien ein erneutes Aufflammen des kurdischen Unabhängigkeitskampfes. Allerdings hat Syrien in Vergangenheit die Kurdenfrage oft auch gegen den regionalen Gegner Türkei instrumentalisiert, etwa durch die Unterstützung der PKK. So kam es in Syrien immer wieder zu der paradoxen Situation, dass ein politisches (und auch militantes) Engagement der Kurden vom Baath-Regime erlaubt wurde, solange es sich gegen die Türkei richtete, aber nicht die Unterdrückung in Syrien selbst thematisierte.
[1] http://www.ag-friedensforschung.de/regionen/Syrien/leukefeld4.html
[2] Francis, Ghadi: Dardari: Der Trojaner des neoliberalen Syrien, in: Inamo Nr. 70, Berlin 2012, S. 23-25. Im Englischen unter: http://english.al-akhbar.com/node/2097
[3] Maunder, Jonathan: The Syrian crucible, in: ISJ, issue 135. http://www.isj.org.uk/index.php4?id=824&issue=135
[4] Siehe ebd.
[5]http://www.kfwentwicklungsbank.de/ebank/DE_Home/Laender_und_Programme/Nordafrika_und_naher_Osten/Syrien/Landesinformation.jsp
[6] Seifan, Samir: Syria on the Path to Economic Reform, St Andrews 2010, S.127
[1] Lesch, David W.: The New Lion of Damascus: Bashar al-Assad and Modern Syria, Yale 2005, S.19
[2] Thoma, Nadja: Syrien – zwischen Beständigkeit und Wandel, Schriftenreihe der Landesverteidigungsakademie, Wien 2008: S. 32/33
[3] Die berüchtigten syrischen Geheimdienste (arab. Mukhabarat) bestehen aus den folgenden drei Hauptdiensten: Allgemeiner militärischer Nachrichtendienst, Direktorat für politische Sicherheit und Nachrichtendienst der Luftwaffe.
[4] Als bedeutendste Foren gelten das Riad-Seif-Forum und das Nationale Jamal al-Atassi-Dialogforum.
[5] Thoma, 2008: S. 34 f.
[6] Lesch, 2005: ebd.
[7] Vgl. http://www.inamo.de/tl_files/dossiers/erklaerung_inamo-46-2006.pdf und Thoma, 2008: S.36
[8] Vgl. Perthes, Volker: Geheime Gärten. Die neue arabische Welt, Siedler, Berlin 2002
Bild: Buchcover: Syrien. Ein Land im Krieg. 2. Auflage, Promedia 2015.