Das Ende des Islamischen Staates ist besiegelt, die letzte irakische Stadt aus den Fängen der Extremisten befreit. Die Regierung in Bagdad steht nun vor großen Herausforderungen. Sei es der Wiederaufbau, die dramatische Versorgungslage von rund drei Millionen Binnenflüchtlingen oder die religiöse und ethnische Spaltung der Gesellschaft – die Liste der Probleme ist lang, die Lösungsvorschläge sind spärlich.
Die Prioritäten Bagdads schienen die vergangenen Wochen anderswo zu liegen: etwa bei der Legalisierung der Kinderheirat. Diese hätte im Zuge eines neuen Personenstandsrechts für Mädchen auf ein Mindestalter von neun Jahren gesenkt werden. Bereits 2014 wurde ein ähnlicher Gesetzesentwurf vorgebracht. Nach heftigen Protesten der irakischen Zivilgesellschaft und dem Ausbruch des Krieges gegen den IS wurde der Entwurf jedoch zurückgezogen.
Dass die Forderung nach einem durch und durch religiös geprägten Personenstandsrecht jetzt wieder aufgewärmt wurde (wenn auch erfolglos), hat nicht zuletzt mit dem neugewonnenen Einfluss konservativ-religiöser Kräfte im irakischen Parlament und darüberhinaus zu tun.
Schiitenblock im Machtrausch
Der langwierige Siegeszug der irakischen Streitkräfte gegen den IS war vor allem den sogenannten Volksmobilisierungseinheiten zu verdanken – einem Zusammenschluss schiitischer Milizen, die in ihrer Skrupellosigkeit und ihrem Fanatismus den Dschihadisten des IS oftmals um nichts nachstanden. Laut Amnesty International sind sie für zahlreiche Menschenrechts- und Kriegsverbrechten verantwortlich. Trotz internationalem Protest wurden die Volksmobilisierungseinheiten in die Armee eingegliedert. Außerdem verfügen sie über enge politische Anbindungen zu unterschiedlichen schiitischen Parteien in der irakischen Regierungskoalition. Ihren militärischen Erfolgen ist es zu verdanken, dass diese politischen Kräfte nun im irakischen Parlament (auch Repräsentantenrat genannt) gestärkt wurden.
Ein weiterer Faktor ist die Schwächung der Kurden. Denn in der Regierungskoalition befinden sich nicht nur konservative schiitische Fraktionen, sondern auch die drei großen kurdischen Parteien KDP, Gorran und PUK. Ihr gegen den Willen Bagdads durchgeführtes Referendum verlief zwar wie erwartet klar zugunsten einer kurdischen Unabhängigkeit, stellte aber gleichzeitig eine gewaltige Fehlkalkulation seitens der kurdischen Führung dar. Die Unterstützung der Amerikaner blieb aus, indes war ihnen die Gegnerschaft der Nachbarländer Iran und Türkei gewiss. Diese unterstützen auch Bagdads Rückeroberung der gemischtbevölkerten Erdölstadt Kirkuk, die Erbil in einem unabhängigen Kurdistan gerne für sich reklamiert hätte. Die umstrittene Stadt wurde 2014 im Zuge der Kriegswirren von der kurdischen Peschmerga eingenommen und in die Autonome Region Kurdistan eingegliedert. Allerdings verfügt Kirkuk über keine klare kurdische Mehrheit, knapp mehr als die Hälfte der Einwohner sind Turkmenen und Araber. Viel eindeutiger als die Besitzansprüche ist der Erdölreichtum, mindestens 13 Prozent, manche schätzen sogar bis zu 20 Prozent, der gesamten irakischen Ölressourcen befinden sich hier. Seit der Niederlage der Peschmerga in Kirkuk befindet sich Irakisch-Kurdistan politisch in zunehmender Isolation, ihr Einfluss in der Regierungskoalition ist schwindend klein – von den wirtschaftlichen Einbußen wegen dem Verlust der Erdölfelder und der Budgetkürzungen aus Bagdad gar nicht zu reden.
Federführend bei der Einnahme Kirkuks waren auch diesmal die schiitischen Volksmobilisierungseinheiten. Sie tummeln im Siegesrausch. Auch das hat zur Stärkung ihrer politischen Parteien im irakischen Parlament geführt. Diese wollen nun ihren militärischen und politischen Einfluss auch gesellschaftlich geltend machen. Und wie so oft sind Frauen der Schlüssel für eine gesamtgesellschaftliche Transformation – in diesem Fall einer religiösen Umgestaltung.
Einzug des Religiösen
Der Gesetzesentwurf für das neue Personenstandsrecht sah dramatische Verschlechterungen für Frauen vor: Benachteiligungen hinsichtlich des Erb- und Sorgerechts zählen noch zu den „harmloseren “ Veränderungen, die de facto Legalisierung von Vergewaltigung in der Ehe sowie die Möglichkeit der Kinderheirat zählen zu den verheerenden Punkten. Das offizielle Mindestheiratsalter für Mädchen bei 18 Jahren. In „dringlichen“ Fällen dürfen junge Frauen nach Ermessen eines Richters auch schon mit 15 Jahren verheiratet werden. Das hätte sich ändern sollen, wären nicht Frauen- und MenschenrechtlerInnen auf die Barrikaden gegangen. In Einklang mit dem Dschaafaritischen Recht hätte das Mindestalter nämlich sogar auf neun Jahre gesenkt werden können. Hierbei handelt es sich um die religiöse Rechtsschule des sechsten schiitischen Imams al Sadeq Dschaafar, der im Jahre 765 n. Chr. gestorben ist.
Ganz allgemein sah der Gesetzesentwurf vor, dass bei Fragen zum Personenstand Gerichte der religiösen Rechtsprechung folgen müssen – nach Konfession differenziert. Je nach der Religionszugehörigkeit des Ehemannes oder Vaters wäre schiitischer (dschaafaritische) oder sunnitischer Rechtsprechung zu folgen. Dies hätte die Risse in der irakischen Gesellschaft wohl weiter vertieft.
Von den verheerenden menschenrechtlichen Folgen abgesehen, stellte dieser Gesetzesvorschlag daher auch einen Bruch des Artikel 14 der irakischen Verfassung dar, wonach alle Iraker vor dem Gesetz gleich sind, „unabhängig von Geschlecht, Rasse, Ethnizität, Herkunft, Hautfarbe, Religion, Konfession, Glaube, Meinung, ökonomischen oder sozialem Status“. Ein Problem jedoch: die irakische Verfassung bietet leider auch Spielraum für die Anwendung des Schariarechts – und genau diesen Widerspruch versuchen sich die vielen islamistischen Akteure im Parlament zu Nutze zu machen.
Für die Durchsetzung dieses neuen Personenstandsrecht hätte der Schiitenblock, der den Entwurf auch eingereicht hat, lediglich eine einfache Mehrheit im irakischen Parlament benötigt – 165 Stimmen der 328 Parlamentsabgeordneten. Die drei großen schiitischen Zusammenschlüsse im Repräsentantenrat könnten alleine schon auf 145 Stimmen kommen – und auch konservative sunnitische Parteien schienen Zustimmung zu signalisieren.
Offener Widerstand kam lediglich von den säkularen Kräften im Parlament, die zahlenmäßig deutlich in der Minderheit sind. Sie konnten sich aber dennoch durchsetzen. Dass sexuelle Gewalt und Kindesmissbrauch – sprich Praktiken, die im Falle des IS noch scharf verurteilt wurden – mit einem „islamisierten“ Personenstandsrecht hätte legalisiert werden sollen, ließ die irakische Zivilgesellschaft nicht kalt. Unter der Parole „Der IS hat es bis in unser Parlament geschafft“, formiert sich breiterer Widerstand gegen die Regierungsvorhaben. Dieser war von Erfolg gekrönt. Den religiösen Parteien fehlte letztlich die nötige Mehrheit im Parlament – wohl auch, weil sich vereinzelt ebenso religiöse Akteure gegen ihr Gesetzesvorhaben stellten. Ein längst fälliger Dämpfer für die irakischen Islamisten und ein wichtiges Lebenszeichen der fortschrittlichen und säkularen Gruppen im Lande, allen voran der Frauenbewegung.
Eine ältere Version dieses Textes ist in der letzten Ausgabe der Zeitschrift INTERNATIONAL erschienen.
Literaturempfehlung: „Irak – Ein Staat zerfällt“ mit einem ausführlichen Beitrag über Frauenrechte im Irak und den Streit ums Personenstandsrecht von Anthropologin Myassa Kraitt.
Bild: Meine Mutter während ihrer Studienzeit in Bagdad ca. 1980.
Ihre Analysen zur Lage im Irak sehe ich als klug und kenntnisreich an. Ich hoffe, dass Sie auch die Chance haben, dies in anderen Medien zu publizieren.
Das Foto von 1980 erinnert mich an meine Zeit in Bagdad (1979 -1980). Frauen mit Kopftuch waren damals in der Minderzahl…
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Danke für das sehr nette Feedback!
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