Neue Karotten, alte Esel

Eine Geschichte über das Hamsterrad der Selbstverwirklichung

„Was auch immer geschieht: Nie dürft ihr so tief sinken, von dem Kakao, durch den man euch zieht, auch noch zu trinken.“ Erich Kästner

Der Werbetexter Micha lehnt gelassen auf einem Tisch vor seinem liebsten sudanesischen Restaurant in Berlin Neuköln. Er nippt an einem Mokka mit Ingwer und starrt durch Retro-Designerbrillen in eine braun-getünchte Leere. Nach dem 10-Stunden-Tag im Büro einer großen Agentur möchte er das letzte Frühlingslicht genießen, bevor die Sonne untergeht. Neben der Kaffeetasse surrt die Festplatte seines MacBooks. Es gilt, bis morgen einen knackigen Teaser für einen spanischen Autovermieter zu finden. Die Zeit drängt, der Sommer naht.

Seine Finger rattern über die Tastatur, Backspace! Er löscht den Text und beginnt von vorne.

Wie praktisch, seine Arbeit überall hin mitnehmen zu können, wie spannend, immer wieder mit Wörtern jonglieren zu dürfen, wie fein, sich die Zeit selbst einteilen zu können. Unbezahlte Überstunden sind für Micha kein Problem, er arbeitet gerne.

Er blickt auf das Display seiner 1980er-Jahre-Casio-Uhr. Noch zwei Stunden bis zum Krav-Maga-Kurs. Bis dahin muss zumindest ein Grundgerüst für seinen Werbetext stehen. Nach dem Sudanesen treibt Micha eine Stunde Sport. Danach heißt es, schnell duschen, Quinoa-Salat mit gedumpsterten Karotten von gestern essen und einen kurzen Smalltalk mit seiner Mitbewohnerin Jana führen. Die 30-jährige PhD-Kandidatin der Soziologie korrigiert Hausübungen aus ihrem Proseminar am Küchentisch. An der Universität gibt es keine Büroräumlichkeiten für Lektorinnen. Nach dem Gespräch gilt für beide wieder: Ran an den Speck.

Ihre Finger rattern über die Tastaturen, Backspace! Sie löschen ihre Texte und beginnen von vorne.

Wie praktisch, seine Arbeit überall hin mitnehmen zu können, wie spannend, immer wieder mit Wörtern jonglieren zu dürfen, wie fein, sich die Zeit selbst einteilen zu können. Unbezahlte Überstunden sind für Jana und Micha kein Problem, sie arbeiten gerne.

Am nächsten Morgen erwacht Micha aus seinem traumlosen Schlaf. Wieder war es eine der vielen Drei-Stunden-Nächte. Er trinkt seinen italienischen Aldi-Mokka in der Küche, schlüpft an Jana, die auf dem Küchentresen eingenickt ist, vorbei und läuft zur Wohnungstüre hinaus. Micha fährt mit dem Retro-Rennrad ins Büro. „Ihr Weg ist unser Ziel“, murmelt er im Schatten des „Alex“. Seinen Werbeslogan hat er gemeinsam mit einer aufwändigen Power-Point-Präsentation im Jute-Rucksack, das Ergebnis einer langen Nacht, gewappnet für einen neuen, endlos-kreativen Arbeitstag. Heute möchte er seinen Chef, den alle locker Chris nennen, fragen, ob er für eine Gehaltserhöhung geeignet sei. Seine 800-Euro-Pauschale reicht gerade für das Mindeste. Die zahllosen Stunden seiner Freizeit, die er der Kreativbranche bereitwillig opfert, sind sein Trumpf in der Argumentation für einen höheren Lohn.

Chris reagiert mit einer standardisierten Antwort. Mittlerweile weiß er, derartige Ansinnen im bürokratischen O-Ton abzuwickeln: Micha verfüge nicht über die notwendigen Arbeitszeiten, um in eine höhere Gehaltsklasse zu fallen und leider zählen die vielen Praktika und freien Dienstverträge seit den 2000ern nicht als Anstellung im arbeitsrechtlichen Sinne. Er müsse noch mindestens fünf, sechs Jahre ständig im Betrieb arbeiten, um für eine Gehaltserhöhung in Frage zu kommen. Micha kennt weder in seiner Abteilung noch sonst jemanden, der fünf, sechs Jahre ständig in irgendeiner Werbeagentur beschäftigt ist. Zwischen Tür und Angel erklärt ihm Chris außerdem: Diese Branche sei keine „Cashcow“. Hier arbeiten Leute, die Spaß daran finden und sich selbst verwirklicht sehen möchten. „Work-Life-Blending“ gelte es zu betreiben. Wenn er Geld verdienen will, dann müsse er sich etwas anderes suchen. Und überhaupt: Für seinen Lohn könne Chris zwei Praktikanten einstellen, die freuen sich wenigstens über 300 Euro im Monat und über ein standardisiertes Arbeitszeugnis aus der Kreativbranche.

Nachbesprechung, 16 Uhr: „Ihr Weg ist unser Ziel“ – der Werbeslogan missfällt dem Vorgesetzen, Micha erntet Häme: Zu wenig Fun und zu wenig sun. Er müsse sich mehr anstrengen, vielleicht auch einmal abseits der Bürozeiten ein wenig brainstormen. Kreativität funktioniere nicht von 9-17 Uhr. Micha versteht und versichert, morgen würde er einen besseren Entwurf vorlegen. Es sei ja auch seine Schuld. Micha klappt sein MacBook zu, schnappt den Jute-Rucksack und setzt sich auf sein Retro-Rennrad. Mangels Kleingeld fährt er dieses Mal nicht zu seinem liebsten Sudanensen, sondern ans Spreeufer. Als die Sonne das Berliner Wasser küsst, fühlt sich Micha unendlich müde.

Seine Finger rattern über die Tastatur, Backspace! Er löscht den Text und beginnt von vorne.

Wie praktisch, seine Arbeit überall hin mitnehmen zu können, wie spannend, immer wieder mit Wörtern jonglieren zu dürfen, wie fein, sich die Zeit selbst einteilen zu können. Unbezahlte Überstunden sind für Micha kein Problem, er arbeitet gerne.

Michas Biographie

Micha, geboren 1983, studierte Publizistik und Kommunikationswissenschaften sowie Deutsche Philologie an den Universitäten Wien und Bonn, beides mit Auszeichnung. Seit Januar 2015 ist er Teilzeit-Angestellter bei einer großen Werbeagentur in Berlin. Davor hat er zahllose Praktika im In- und Ausland absolviert und als freier Journalist und Blogger bei diversen Magazinen gearbeitet. Als Mitglied des akademischen Prekariats betrachtet er seine soziale Lage, besonders die unwürdige Entlohnung der vielen freiwilligen Arbeit, als notwendiges Übel. Immerhin könne er sich selbst verwirklichen.

Und wenn seine Leistung einmal nicht passt, ist er selbst schuld. Dann muss er an sich arbeiten, sich optimieren für den Markt, schneller laufen im Hamsterrad, noch mehr, noch tiefer, noch effizienter verwertbaren Glücks-Output herauspressen, und immer seiner Selbstverwirklichung hinterherlaufen, die wie eine Karotte vor seiner Nase baumelt.


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